@ Michael Saxer:
Andrew Newberg wird normalerweise unter dem Stichwort 'Neurotheologie' geführt, als deren Begründer oder Initiator er gilt. Ich habe die Debatte darum bzw. um ähnliche neuere naturwissenschaftliche Erklärungsversuche von Religion mehrfach in den letzten anderthalb Jahren in FOREVER dokumentiert und kommentiert, so z.B. vor allem vor einem Jahr in News-Folge 15 aber auch in News 16, 20 und 21. In News 15 findet sich auch der Link zu einem ausgezeichneten ZEIT-Artikel 'Warum Menschen glauben', der neuere Ansätze und Forschungsergebnisse ausführlich und prägnant zusammenfasst und kritisch beleuchtet. Darin auch der Verweis auf einen früheren Artikel schon aus dem Jahre 2002, der sich explizit mit der Neurotheologie beschäftigte (='Mischung aus zweitklassiger Naturwissenschaft mit drittklassiger Philosophie'). News 16 verweist dagegen auf die entsprechende Juli-Titelgeschichte 2005 der 'Bild der Wissenschaft', die aber nicht im Netz einsehbar ist.
Ohne hier noch mal ins Detail zu gehen, würde ich sagen, daß Karl die wichtigsten Argumente hier schon angedeutet hat, Stichwort 'eine Korrelation ist keine Kausalität' etc. Man kann hinzufügen, daß eine subjektive Erfahrung ihren existentiellen Stellenwert, ihren emotionalen Wert und ihre (de-)motivierende Funktion noch nicht dadurch verliert, daß man ihr materielle Vorgänge zuordnen kann oder daß man sie überhaupt 'erklärt'. Man muß immer noch essen, auch wenn man alles über den Vorgang der Ernährung theoretisch weiß, der Spaß am Sex wird auch nicht getrübt, wenn man bestimmte hormonelle Zusammenhänge kennt und einem Blinden kann man die Erfahrung des Sehens zwar beschreiben aber in ihrer irreduziblen Eigenart nicht vermitteln (=Unterschied zwischen Theorie und Praxis oder zwischen Landkarte und Gelände usw.). Die Idee, daß abstraktes Wissen ÜBER eine Sache per sé wertvoller oder gar 'wahrer' sei, als der unmittelbare Erfahrungszugang ist sowieso ein moderner Mythos, der gerade mal wieder ein wenig angekratzt wird, siehe den SPIEGEL-Titel von letzter Woche 'Gefühltes Wissen' über die Macht und tiefere Relevanz von Intuition und Gefühl oder die Titelgeschichte von 'ZEITWissen' von vor zwei Monaten zum gleichen Thema. In den verschiedensten Bereichen und Subkulturen - Psychoszene, Kunst, Literatur, Erotik, Musik, Sport, Politik, Militär, Werbung, Medien allgemein etc. - hat dieser überspitzte Rationalismus noch nie dominiert, vom Alltagsbewußtsein ganz zu schweigen.
Dies gilt alles und gerade auch für die ekstatische Erfahrung der kosmischen Einheit, wie sie die Mystiker beschreiben, bei der es aber jede Menge Fallstricke zu beachten gilt, die z.B. beim Philosophen Ken Wilber u.a. unter der Rubrik prä-/trans-Irrtum geführt werden. (Näheres siehe
http://www.ak-kenwilber.orgDort den Menüpunkt 'Wilber- Kurz gefasst' anklicken: 'Prä/Trans'.) In der Perspektive der Mystik werden dabei Fragen relevant, die JENSEITS von Wissenschaft und Rationalität angesiedelt sind und sich auch auf die Grundlagen der Vernunft SELBST beziehen, die sich nicht autonom begründen kann. Schließlich: Wovon leitet sich die gesamte Existenz ab, warum sind die Naturgesetze so wie sie sind, was war vor dem Urknall, warum GIBT es überhaupt die Möglichkeit subjektive Erfahrungen zu machen, woher kommen ihre qualitativen und subjektiv erlebten Eigenarten, warum ist nicht NICHTS?? Die Mystiker sind dementsprechend nicht gegen Rationalität sondern sie sind eben 'jenseits' von ihr, 'trans-rational', jenseits ihrer grundsätzlichen Grenzen, die es immer geben wird, weshalb eine Rationalität, die sich nicht in Beziehung zu sich selbst setzen kann, aus Wissenschaft eine Ideologie macht oder eine moderne und paradoxe Form von Glauben. Der Satz aus der klassischen Philosophie, der auch den Unterschied zwischen Wissen und Weisheit begründet und vielleicht sogar die Scheidelinie zwischen rationalen und transrationalen Haltungen markiert, lautet dementsprechend 'Ich weiß, daß ich nichts weiß.'
Du brauchst auch nicht erst Menschen mit noch traditioneller Religion von ihrer überlieferten Gottesvorstellung abzubringen, um eine mögliche Affinität zur Kryonik potentiell zu steigern, denn in Deutschland wie in ganz Westeuropa gibt's Abermillionen von säkularen Menschen, die an überhaupt nichts mehr glauben. (Im Durchschnitt glauben laut großer Umfragen in Deutschland ca. ein Drittel nicht mehr an Gott, in den großen Städten und in den östlichen Bundesländern sogar deutlich mehr als die Hälfte, und wenn man allein nur diese beiden Merkmale kombiniert, kommt man in Ost-Berlin, Leipzig, Dresden u.ä. auf Werte, die über 80% liegen!)
Das methodologische Problem der Kryonik liegt ja gerade darin, daß sie einen existentiellen Glaubensakt nun nicht mehr an eine höhere oder transzendente Macht sondern nun vom ultimativen Fortschritt der Wissenschaft abverlangt. Die glaubenslos gewordenen rationalistischen Menschen lehnen aber den ganzen Glaubensmodus AN SICH ab und verlangen Beweise, Bestätigung, kontrollierte Experimente, gesicherte Erfolge, nachvollziehbare Überprüfbarkeit usw., eben das ganze Arsenal des positivistischen Wissenschaftsverständnisses. Daß der einstige kollektive Wissenschafts- und Fortschrittsoptimismus schon vor Jahrzehnten in eine grundlegende Krise geraten ist, Stichworte 'Grenzen des Wachstums', 'Dialektik der Aufklärung', 'Kampf der Kulturen', allgemeiner Zukunftspessimus u.ä. mehr, steht dabei noch mal auf einem ganz anderen Blatt.
Die oben schon erwähnte Wahrnehmung und Wertschätzung der subjektiven Erfahrung hat dabei auch entscheidende Konsequenzen für die Beurteilung des kryonischen Angebots. Wie ich dir schon vor Jahren im FALK-Forum geschrieben hatte, unter der Überschrift '5 Punkte, die GEGEN Kryonik sprechen': Solange es keine funktionierende Methode der Wiederbelebung aus der kryonischen Konservierung gibt - und zu allem Überfluß die Kryobiologen und andere Wissenschaftler auch noch vehement bestreiten, daß das nach dem heutigen Verfahren je funktionieren wird - wird die natürliche und spontane Reaktion auf das kryonische Angebot (für das auch noch eine Geldsumme in Höhe des Werts eines kleinen Eigenheims fällig werden soll) immer extreme Todesangst sein, mindestens extreme Ungewissheit mit resultierender extremer Distanzierung oder zugespitzter Gleichgültigkeit. Sollte sich an dieser wissenschaftlich-praktischen Voraussetzung etwas ändern, werden auch die kollektiven Motivationen folgen, aber wenn du es dagegen weiterhin und unverdrossen umgekehrt probieren willst, dann wirst du auch künftig wenig Resonanz ernten, um es milde auszudrücken.
Die Logik des kleineren Übels oder der allerletzten Chance, die dann normalerweise noch beschworen wird, ist eine extrem defensive und grundlegend pessimistische Position, die mit allen möglichen Mechanismen psychologischer Motivierung in Konflikt gerät, die etwas mit positiven Zielen, Freude, Hoffnung, Vertrauen, positiven Teilzielen, angenehmen Gefühlen im hier und jetzt in Übereinstimmung mit höherer geistiger Stimmigkeit, Verläßlichkeit und Wahrscheinlichkeit von abstrakteren Annahmen zu tun haben. Man findet diese Haltung typischerweise daher auch so gut wie nie bei den (älteren) Menschen, die es doch existentiell betreffen müßte, sondern meist nur bei sehr viel jüngeren und zugespitzt rationalistisch argumentierenden Leuten, wobei ich auf die prinzipiellen Grenzen eines einseitigen Rationalismus ja schon weiter oben eingegangen bin. Wie wenig Begeisterung und Resonanz die kryonische Idee selbst unter atheistischen und technischen Immortalisten auslöst, kann man dagegen hier im entsprechenden Bereich des englischsprachigen Hauptforums regelmäßig studieren, und auch die Tatsache, daß ihr euch in der deutschen Abteilung tatsächlich mit einem 'protected forum' gegen alle möglichen Einwände oder abirrenden Diskussionen schützen zu müssen glaubt - siehe die Entwicklung des FALK-Forums - spricht schon formal eine deutlichere Sprache als alle möglichen inhaltlichen Erwägungen je aufwiegen könnten. Das ist letztlich alles auch kein Wunder, und hat mit der allgemeinen Todesverdrängung zu tun, die JEDE Unsterblichkeitsrichtung behindert, aber wenn man sich nur lebendig genug vor Augen führt, was einen Menschen konkret erwartet, wenn er kryonisiert werden soll, dann ist sofort klar, daß hier die emotionale Abwehr sogar noch einmal in potenzierter Form provoziert wird.