@ Karl:
Erstens gibt es nicht praktischeres als eine gute Theorie, wie ein kluger Kopf einmal festgestellt hat.
Zweitens ist empirische Forschung generell hypothesen- und theoriegeleitet, wenn sie nicht blind begrenzte materielle wie geistige Mittel in den Laborsand setzen will (den hilfreiche Spender aus der ganzen Welt via Post oder FedEx beigetragen haben).
Drittens hat gerade das ganze SENS-Projekt einen zugespitzt deduktiven Charakter, in dem de Grey als theoretischer Biologe ein Konzept vorgelegt hat, das die experimentelle Forschung nachträglich überprüfen soll. Ist es tatsächlich falsch, unvollständig, unpräzise, wie von kompetenteren Kritikern als mir mit großer Medienunterstützung aktuell behauptet wird, geht nicht nur die empirische Überprüfung genauso in die Irre wie die gesamte experimentelle Biogerontologie seit Jahrzehnten, die noch kein einzigstes Jahr Lebensgewinn beim Menschen erreicht hat (nicht zuletzt, weil sie falschen theoretischen Verallgemeinerungen - Stichwort Programmtheorie - gefolgt ist). Sämtliche damit verknüpften außerwissenschaftlichen Hoffnungen auf verstärkte öffentliche Wahrnehmung, Anerkennung, finanzielle Unterstützung etc. des Langlebigkeitsthemas brechen dann ebenfalls in sich zusammen.
Viertens sind eure (Karls und Johns) Plädoyers für die praktische Laborarbeit ja schön und gut, 'allein, mir fehlt der Glaube' (Faust 1), wenn ich das extreme Ausmaß eures mehrjährigen 'wortreichen' Internetengagements sehe, gegen das ich sonst überhaupt nichts einzuwenden habe. Was wäre daran aber besonders 'praxisorientiert' (außer im Lichte von erstens)???
Fünftens dürfte es allein im deutschsprachigen Raum mindesten mehrere Hundert professionell arbeitende experimentelle Biogerontologen geben (von der Zahl der allgemein biotechnologisch arbeitenden Forscher ganz zu schweigen), schon zwei wissenschaftliche Gesellschaften - die DGGG mit über 1000 Mitgliedern, wobei in Sektion 1 von insgesamt vier Untergruppen die naturwissenschaftlich orientierten Alternsforscher organisiert sind, und die DGfA mit ca. 120 Biogerontologen - ein Alternsforschungsinstitut der Leibniz-Gesellschaft mit über einem Dutzend vorwiegend empirisch orientierter Arbeitsgruppen, eine biogerontologische Abteilung des Max Planck Instituts für demographische Forschung in Rostock, weitere entsprechende Universitätsinstitute z.B. an der Universität Nürnberg, Jena, Freiburg u.a. sowie tiermedizinische Institute im Bereich der Alternsforschung z.B. an der Uni Frankfurt und Uni Wien oder die Mausklinik nahe München. Wenn man daher so vehement für eine experimentelle Arbeit nach naturwissenschaftlichen Standards eintritt, dann findet man dort gewiss einen angemesseneren Rahmen und qualifiziertere Ansprechpartner als auf Imminst, das ich vorwiegend als eine Plattform für den übergeordneten und allgemeinphilosophischen Austausch ansehe. Weltweit gesehen oder jenseits des engen biogerontologischen Kontext sind die Möglichkeiten natürlich noch sehr viel größer.
Sechstens ('wo willst du damit hin?') zählt für mich zum einen langfristig nur die tiefere Wahrheit der sachlichen Zusammenhänge und je langfristiger das Ziel ist, desto tiefer, umfassender, korrekter muß die Analyse des Problems bzw. die Diskussion von Einwänden sein etc. Zum anderen bin ich der grundlegenden Auffassung, daß beim Thema Tod und Sterben die kurzfristigen Bedrohungen und Todesursachen, die mittelfristigen dominieren und die mittelfristigen die langfristigen, was alle möglichen individuellen, sozialpsychologischen, medialen und sonstigen kollektiven Bedingungen der Wahrnehmung von und der Zustimmung zur Langlebigkeitsthematik zentral beeinflusst. Auf Imminst wie bei de Grey herrscht hier stattdessen eine völlig unfruchtbare weil lebensfremde Interpretation der Mortalitätsstatistiken vor, die mit einer verzerrenden Wahrnehmung der übrigen Tatsachen des menschlichen Lebens einhergeht. Daher auch das breite Themenspektrum in FOREVER, weil die engführende direkte Übersetzung von Langlebigkeitswunsch in biomedizinische Alternsforschung der Grund- und Hauptirrtum überhaupt ist, der jegliche stärkere Ausbreitung der Idee und eine größere Unterstützungschance verhindert.
Hinzu kommt, daß kleinere aber als bestätigt geltende Lebenszeitgewinne, wie sie z.B. die Anti Aging-Medizin verspricht, praktisch-psychologisch auf stärkere kollektive Resonanz und Akzeptanz stossen als größere aber umstrittene und völlig hypothetische Langlebigkeitsperspektiven. Das Alternsthema allgemein bzw. die biomedizinische Alternsforschung besitzt daher generell schon eine äußerst geringe öffentliche Aufmerksamkeits- und Unterstützungschance, egal ob konventionell oder unkonventionell à la SENS, und alle möglichen Spekulationen und Projekte, die sich z.B. um eine größere Förderchance und Publizität durch wissenschaftliche Teilerfolge im kleinen drehen, gehen daher grundlegend in die Irre. Einfachstes weil naheliegendste Indiz: Die Begeisterung für LysoSENS hat jetzt schon über ein halbes Jahr gebraucht, um auch nur einen extrem sympathisierenden Menschen wie dich zu erreichen. Denk einfach nur mal über die tieferen Gründe dafür nach und erinnere dich an den Querschnitt z.B. der Mitdiskutanten auf 1000fragen.de, die selbst schon keine repräsentative Auswahl darstellen, wie die wohl im Durchschnitt dazu eingestellt wären.
Siebtens habe ich bei jemanden wie John und den meisten übrigen unter 30-jährigen SENS-Unterstützern des Hauptforums sogar noch ein gewisses Verständnis für seine Herangehensweise. Irrt er bzw. De Grey sich in seinem Zeitrahmen sogar um 100%, wird er trotzdem noch einmal 25 bis 30 Jahre Zeit für einen neuen Anlauf haben, wo er dann ja alle möglichen Erfahrungen und Kritiken berücksichtigen kann. Bei mir würde es dann mit meinen 45 Jahren schon ziemlich knapp, aber gerade bei jemanden wie dir, der jetzt schon auf die 60 zugeht, verstehe ich die einseitige Zuspitzung auf Bio- und Nanotechnologie überhaupt nicht!? Selbst ein so vehementer, prominenter und vor allem optimistischer Verfechter dieser beiden Wissenschaftszweige wie Ray Kurzweil, der ziemlich genau dein Jahrgang sein dürfte(?), spricht von den DREI Brücken zur Unsterblichkeit bzw. zur escape velocity und beschreibt die ERSTE Brücke als ein umfassendes aber konventionelles Anti Aging-Regime, das in seinem Falle z.B. eine Unzahl von Nahrungsergänzungsmitteln usw. einschließt. (Eine umfassende Einschätzung der zentralen Veröffentlichung von Kurzweil dazu aus dem Jahre 2005 kannst du
hier lesen.)
Anders gesagt: die einzigste Praxis, die bei Menschen in deinem Alter mit einer statistischen Restlebenserwartung von gerade mal ca. 15 Jahren noch begründete Aussicht auf Erfolg hätte, wäre, wenn du dir ein Buch wie 'Forever Young' (Ulrich Strunz) oder einen ähnlichen sehr handfesten Ratgeber kaufst und Zeile für Zeile 'auswendig' lernst (d.h. natürlich: dir innerlich zu Herzen nimmst und praktisch umsetzt). Ein Projekt wie SENS, das dir dagegen eine 25-jährige Perspektive anbietet mit verschiedenen Relativierungen wie begrenzten Erfolgswahrscheinlichkeiten, riskanten Anfangsschwierigkeiten oder einem anfangs privilegierten Zugang(!), das doch noch gar nicht richtig angefangen hat, dessen Verwirklichung in den Sternen steht und das vom wissenschaftlichen Mainstream massivsten Widerstand erntet, liegt gewissermassen hinter deinem ganz persönlichen 'existentiellen Ereignishorizont'. (Wie für mindestens 25 Jahrgänge der übrigen Bevölkerung auch, die über ein Drittel aller lebenden Erwachsenen und wahrscheinlich mehr als zwei Drittel aller Entscheidungsträger in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien usw. darstellen.) Mit den gigantischen Umsätzen seiner Bücher - Auflage in weniger als zehn Jahren: über drei Millionen - könnte übrigens ein einziger Erfolgsautor wie Ulrich Strunz die erste Rate des SENS-Projektes fast ganz alleine zahlen! (Wenn er es denn wollte...)
Achtens gibt es keine 'Schundliteratur'. Das ist ein ideologische Kampfbegriff aus längst vergangenen Jahrzehnten bürgerlich-klerikaler Kreise, daher hatte ich es schon beim letztenmal in Anführungszeichen gesetzt und einen Ironiesmiley hinzugefügt. Meiner Meinung nach wie der ganzer akademischer Disziplinen wie der Germanistik u.a. ist es es zwar sehr wohl möglich, allgemeine Maßstäbe für bessere oder schlechtere Literatur zu formulieren, die über die subjektiv-beliebigen Geschmacksempfindungen hinausgehen, aber da du das neulich in einem Nachbarstrang bestritten hast, müssen wir diese (off topic)Debatte hier auch nicht wiederholen. Es mag psychologisch oder als Illustration eines Arguments interessant sein, von deiner persönlichen geistigen Entwicklung zu erfahren, aber an sich gehören solche Ausführungen eher in einen Bereich wie 'Introduce yourself', wenn wir den im Regionalforum auch hätten. Das Unsterblichkeitsthema nimmt aber allgemein seinen Ausgangspunkt nicht in der von Karl Bednarik gelesenen 'Schundliteratur' sondern in den ganz anders gelagerten vielfältigen Quellen, aus denen auch die Autoren deiner Jugendliteratur geschöpft haben. Viel interessanter wäre es doch, dem Transformationsprozess und seinen Bedingungen nachzuspüren, die bei diesem literarischen, geistigen und historischen Übersetzungsvorgang stattfanden, und wie sich die subjektive Erscheinungsform des Unsterblichkeitsgedankens dabei verändert und ausgeformt hat bzw. in aktuelle Aufgaben und Problemstellungen mit eingeht. Empfehle dir beispielsweise die Biographie von Perry Rhodan-Miterfinder Walter Ernsting alias Clark Darlton als Einstieg in eine solche Quellenanalyse.
Neuntens dachte ich immer, Goethe sei in erster Linie für sein poetisches Werk und nicht für seine naturwissenschaftliche Feldforschung berühmt geworden!? Bevor man übrigens so ganz unbekümmert oder ironisch ausgerechnet den 'Faust' im Langlebigkeitskontext zitiert, sollte man sich vielleicht doch erst noch einmal den Gang der Handlung, seine zentralen Motive und seine Stellung in der Literatur- und Theatergeschichte vergewissern. Der 'Faust' wird schon seit längerem auch als kritischer Kommentar zur jüngeren Entwicklung der gesamten Biotechnologie interpretiert und geht damit ebenfalls ein in die allgemeine Auseinandersetzung um dieses Wissenschaftsfeld.
Zehntens habe ich den Transhumanismus im Frühjahr 2001 durch das Engagement eines transhumanistischen Chemikers namens Sven Haferkamp in einem allgemeinphilosophischen Forum zur Frage 'Gibt es ein Leben nach dem Tode?' kennengelernt, das schon seit einigen Jahren inaktiv ist (Link findest du in meiner Linkliste, wenn's dich interessiert). Sven hatte eine menschlich angenehme und sachlich kompetente Art, die indirekt Werbung für die Sache des Transhumanismus machte, obwohl ich in vielen oder besser in einigen entscheidenden Punkten grundlegend anderer Meinung war und bin. Neben dem geradezu genialen Begriff gefällt mir vor allem die mit dem Transhumanismus verbundene Unsterblichkeitsorientierung, die viele andere - wie ich meine - Schwächen oder Defizite aufwiegt. Der große weltanschaulich-philosophische Rest erscheint mir dagegen wie das vergebliche Aufwärmen eines reduktionistischen Szientismus der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, der längst schon seine intellektuellen wie praktisch-politischen Widerlegungen gefunden hat. Ich persönlich habe mich daher noch nie als Transhumanist gesehen. Wenn's denn unbedingt ein Ettikett bräuchte, würde ich mich seit neuestem dagegen lieber als 'Transhedonist' bezeichnen, aber das ist jetzt auch nicht so ganz ernst gemeint und würde in der Begründung zu weit führen.
Mit SENS geht es mir übrigens im Prinzip genauso: Der Hauptpluspunkt, der viele andere Einwände dagegen aufwiegt oder zumindest stärker relativiert, besteht darin, daß es der erste Ansatz ist, der sich konsequent - und so praktisch wie lösungsorientiert - auf das verschleißtheoretische Paradigma der Alternsforschung bezieht! Damit gehen aber auf einer tieferen Ebene alle möglichen Komplexitätsprobleme und sachlichen Schwierigkeiten einher, die naive Erwartungshaltungen, wie sie so oft mit älteren programmtheoretisch orientierten Forschungsansätzen à la Todesgen, Telomere, monokausale Altersuhr u.ä. verbunden waren, gerade verbieten. Daher ist es um so enttäuschender, wenn die Diskussion um SENS im Hauptforum in dieser althergewohnten und oft unkritischen Weise geschieht und ihr das anscheinend auch noch als Zeichen von angemessenem 'positivem Denken' interpretiert.
'Du mußt verstehn!
Aus Eins mach Zehn,
Und Zwei lass gehn,
Und Drei mach gleich,
So bist du reich.
Verlier die Vier!
Aus Fünf und Sechs,
So sagt die Hex,
Mach Sieben und Acht,
So ist's vollbracht:
Und Neun ist Eins,
Und Zehn ist keins.
Das ist das Hexeneinmaleins.'
('Faust 1',
In der Hexenküche.)