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Durs Grünbein: Leute wollt ihr ewig sterben?


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#1 caliban

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Posted 05 April 2005 - 11:41 PM


LEUTE, WOLLT IHR EWIG STERBEN?



Lässt sich das Leben der Menschen verlängern? Bricht bald das "fröhliche Zeitalter des Menschenmachens" an? Manch schaurig-schöne Vision scheint dank der Fortschritte in den Genlabors plötzlich realistisch - doch wie sollen die fehlerhaften und sterblichen Individuen der Gegenwart mit alldem umgehen? Der in Berlin lebende Lyriker und Essayist Durs Grünbein, 38, Büchner-Preisträger von 1995 und an Naturwissenschaften schon lange interessiert, betrachtet die Bio-Revolution mit ätzender Melancholie.
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VON DURS GRÜNBEIN

Es ist also vollbracht. Das menschliche Erbgut ist entschlüsselt, nun kann die Übersetzung beginnen. Die DNS-Panzerknacker haben die kostbare Information fast bis zur letzten Sequenz abgehorcht und in lesbare Datensätze verwandelt. Was ist gewonnen, was ist verloren gegangen mit diesem Schritt, den die Staatsmänner der beteiligten Nationen als historischen Durchbruch feiern?

Zunächst einmal scheint sich nur etwas fortgesetzt zu haben: erst das "Mercator"-Projekt, die Vermessung und Kartografierung der Erde, dann die Erfassung des Sonnensystems und der an die Milchstraße angrenzenden Galaxien, schließlich die Aufstellung eines Periodensystems aller Elemente und nun die Erstellung der Blaupause des Menschen, seine Entzifferung nach dem biochemischen Alphabet. Die Sache war einfach überfällig. Dank erweiterter Rechnerkapazitäten, schnellerer Mikroprozessoren ließ sie sich termingerecht einbringen zum Abschluss des Millenniums.

Der Urtext des Menschen besteht also, jetzt wissen wir es, aus etwa Drei Komma Zwei Milliarden Paaren der Basen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin. Auch wenn es vorerst nur Phantasien sind aus dem Geist E.T.A. Hoffmanns oder besser noch Mary Shelleys, in ferner Zukunft könnte die Entwicklungsrichtung ganzer Bevölkerungsteile von simplen Laborfehlern bestimmt werden. Vererbt würden dann nicht mehr nur angeborene Merkmale, sondern auch jene unvorhersehbaren Zuchterfolge und ihre Nebenwirkungen. Es beruhigt ungemein, wenn uns die Genforscher versichern, dass sie einstweilen nur an ausgewählten Stellen in die Embryogene einzugreifen gedenken. Hier und da ein wenig Optimierung, mehr soll gar nicht sein. Und doch beschleicht einen der Gedanke: Was, wenn diese letzte Lockerung auch hier den Fehlerteufel, getarnt als menschlichen Faktor, ins Spiel bringt?

Was Darwins Abstammungslehre uns nahe legte, war bald bewiesen: Der Schimpanse teilt mit uns 98 Pro-

zent des genetischen Materials. Die kleinste Unachtsamkeit im Genlabor, der geringste Übertragungsfehler eines übermüdeten Assistenten würde demnach genügen, um im Einzelfall mit Fleisch und Blut Schicksal zu spielen. Natürlich ist die Vorstellung nicht ohne Reiz, die Evolution könnte in Zukunft Bocksprünge machen und eine Menschheit, die sich selbst überdrüssig wurde, bereichern um lauter kultwürdige Mischwesen, defekte Humanoiden und Freaks aller Art.

Ein neues Abenteuer also, und warum nicht? Immerhin ließe das Spektrum der Erdpopulation, das Farbenspiel der Rassen, das ethnische Kaleidoskop sich auf diese Weise enorm erweitern. Vorerst geht es nur um die Optimierung harmloser Embryos, an Vervielfältigung und serielle Homunkulus-Produktion mag im Augenblick niemand denken. Allzu kurios erscheint die Literatenvision, der genmanipulierte Mensch könnte dank eines winzigen Lapsus bei der In-vitro-Zucht dem braven Rotpeter, Kafkas gelehrigem Affen, in umgekehrter Richtung begegnen, an dem tierischen Aufsteiger vorbeiziehen zurück in die Zeitentiefe der Evolution.

Was uns nicht alles bevorsteht bei der Überfahrt in die künstlichen Paradiese, welche lustigen Anachronismen, welcher Zirkus der ungewollten Mutationen! Man bedenke: Endlich wäre, dank spielerischer Gentechnik, das Pinzip linearer Entwicklung durch Auslese wieder aufgenommen.

Es nützt nichts, als apokalyptische Phantasie abzutun, was dereinst nüchterne Risikokalkulation sein wird. Natürlich findet im klimatisierten Großraumlabor keine Sintflut nach biblischem Drehbuch statt. Dabei sitzt der Laie, der bloße Nutzer von Gentechnologie, längst in der Falle. Verweigern hilft nichts, die Entscheidung haben ihm andere abgenommen, ihm bleibt nur, sich vertrauensvoll hinzugeben, wie immer, wenn Wissenschaft sich der intimsten Lebensbereiche bemächtigt.

Die Spezialisten experimentieren, die Spezialisten können sich irren, die Spezialisten werden es richten. Mehr denn je werden wir auf ihr Krisenmanagement angewiesen sein. Wie kann der Körper Fehler, die durch Genmanipulation, also Fremdeinwirkung, entstanden sind, ausgleichen?

Man sagt uns, wir wüssten, auf welchen Chromosomen die erblichen Krankheiten liegen. Mit anderen Worten: Die Speicherplätze für Farbenblindheit etwa, Alzheimer oder bestimmte Formen von Blutkrebs sind nunmehr dingfest gemacht. Man kann sie, wie die Steckbriefe von Schwerverbrechern, jetzt an die Öffentlichkeit geben. Demnächst also wird man den Symptomen zuvorkommen, im Zellgrundriss die Ursache der Krankheit bekämpfen, ohne die furchtbare Wirkung erst abwarten zu müssen.

Prophylaxe am Ausgangspunkt also, wer verstünde das nicht? Mit solcherlei unanfechtbarer Argumentation panzert sich heute die Forschung. Tatsächlich aber ist hier die alte menschliche Neugier nach den Determinaten und Invarianten am Werk, der Drang, den Kausalzusammenhang zu beherrschen. Wüsste man erst um den Bauplan der Genotypen, man könnte ihn ändern zu Gunsten dessen, wovon man immer schon träumte, den perfektionierten Menschen.

Gewiss doch, all das sind Zukunftspläne, Bio-Utopien auf der Suche nach Investitionskapital. Eins aber zeigt sich schon heute: Die Ohnmacht wird damit keineswegs kleiner. Die beschämende Lücke von Diagnostik und Therapie lässt sich nicht über Nacht schließen, sie wächst im Gegenteil mit den Erkenntnissen. Mag auch dem Embryo dereinst geholfen werden, den Lebenden, der als unheilbar Kranker todgeweiht ist, erwartet nichts als die endgültige Einsamkeit. Er empfängt nun das Todesurteil Jahrzehnte vor seinem sicheren Ende.

Einstweilen blüht jedoch schon, in den Zwischenräumen gentechnologischer Praxis, wohlkalkuliert, das Geschäft mit der Angst. Ohne die qualifizierten Mechaniker und Installateure mit dem genbiologischen Fachwissen wird man demnächst genauso verloren sein wie heute schon als Benutzer von Waschmaschinen, Kleinwagen und Fernsehgeräten. Illusorisch zu glauben, ein derart kapitalintensiver Wirtschaftszweig könne zu demokratischen Spielregeln der Produktverteilung, Gleichbehandlung und egalitärer Nutzung führen. Wissenschaft, dieses Ziehkind der Aufklärung, ist längst zum Garanten der Chancenungleichheit geworden - quer durch die offene Gesellschaft diesmal, weit entfernt von jeglicher Philanthropie.

Die Reaktion mancher Versicherungsgesellschaften auf die jüngsten Erkenntnisse ist erst der Anfang einer neuen Soziopolitik. Nach den Klassenkämpfen und Rasse-Ideologien von gestern kommt nun die Ära der gentechnisch maskierten Diskriminierung. Es kann jeden treffen, ein Fetzchen Gewebe genügt als Indiz. Dann heißt es: Die Edlen in Tröpfchen, die Minderwertigen schröpfen, so lange, bis die einen den anderen freiwillig weichen und kleinlaut aus dem gepflegten Menschengarten verschwinden.

Ökonomisch betrachtet, geht mit dem Boom der Biowirtschaft eine Neuverteilung der so genannten Schlüsselindustrien einher. Bereits jetzt sind die Auswirkungen auf den Aktienmarkt spürbar. Demnächst bestimmen sie das Verhalten der Politikerkaste, die mit dem üblichen nacheilenden Gehorsam sich bemühen wird, die rasante Entwicklung zu steuern im Namen des Wirtschaftsstandorts.

Genetische Hygiene als erste Bürgerpflicht: Dem kollektiven Druck wird keiner standhalten können. Unsterblichkeit heißt die Verlockung. Die Frage der Lebensqualität ist von der Tagesordnung gestrichen. Gemeint ist Unsterblichkeit als Bruttosozialprodukt oder die bloße Verlängerung leerer Lebenszeit nach dem Muster heutiger Freizeitkultur. Leute, wollt ihr ewig sterben? lautet der Schlachtruf. Reicht es nicht, dass ihr bis gestern mit nichts als Altersfürsorge beschäftigt wart, Frührentner im Geiste, Sklaven der Arbeitsgesellschaft und ihrer generativen Neurosen?

Der langlebige Mensch als raffinierteste Warenform kommt in Sicht. Die Reklame hat schon begonnen. Die Subskriptionsliste für das Unsterblichkeitsticket wird jedenfalls länger sein als die für Klassikerausgaben oder Charterflüge zum Mond.

Garantiert 200 Jahre Lebensdauer ist das Versprechen. Wir halten den Zellverfall auf, das ändert alles, Familienplanung, Vermögensanlage, Arbeits- und Freizeitorganisation, die Nachwelt kann warten.

Wie bedauernswert die gewöhnlichen Sterblichen früherer Epochen! Ihr Schicksal war dieser kurze Lebenszyklus. Was soll uns ihr nörgelndes vanitas vanitatum, die übertriebene Todesfurcht dieser Eintagsfliegen mit ihren beschränkten Aussichten, ihren morbiden Vergänglichkeitsphantasien, die Elegie von der Kürze des Lebens? Ein Philosoph wie der Römer Seneca hatte Unrecht, sich derart moralisch zu brüsten. Wie anmaßend war seine Theorie vom Mehrwert der Muße, wie albern sein wählerischer Stoizismus, erwachsen aus kleinlichem Endlichkeitsdenken.

Was aber, wenn dies das Ende aller Abenteuer ist, die das Leben erst lebenswert machen? Eines Tages tritt der genetisch allseits aufgeklärte Mensch auf den Plan, das uninteressanteste Geschöpf auf Erden, der universelle Langweiler, ein offenes Buch, mit lauter gleichförmigen Sequenzen bedruckt. Auf einen Blick erkennt er, umgeben von seinesgleichen, den biologischen Algorithmus. Einmal zu lang in das Reagenzglas geschaut, und es packt ihn das Grauen.

Nicht, dass er sich selbst dann, dank Molekularbiologie, vollkommen durchsichtig wurde, ist das Unheimliche. Der wahre Schrecken wird sein, dass die Gefahr nun nicht mehr, wie seit Jahrtausenden, primär von außen kommt, sondern sich fortan im Inneren konzentriert, in den Zellen des eigenen Körpers, den die Gesellschaft, legitimiert von der Wissenschaft, auf eine nie da gewesene Weise dann kontrolliert. Man muss es sich klar machen: Sämtliche Optimierungsprojekte im Lauf der Geschichte konnten sich des Menschen immer nur von außen bemächtigen. Solange Sektenschulung, Gehirnwäsche und Psychoterror die einzigen Druckmittel waren, ließ sich der Zugang zur Persönlichkeit nur vorübergehend erzwingen. So lange war das Bewusstsein der letzte Halt, auf Dauer eine uneinnehmbare Festung.

Im Grunde hat sich die Konstitution des Alten Adam, sieht man von Frühreife und absolutem Körperwachstum ab, erstaunlich konstant gehalten. Seit zehntausend Jahren ist sein Gefühlshaushalt mehr oder weniger der gleiche. Alle Versuche, ihn von außen her zu erschüttern, stießen zuletzt auf einen eisernen biologischen Widerstand. Der harte Kern des Menschen blieb gegen jede Normierung, jede dauerhafte Manipulation resistent.

Das wirklich Teuflische, die wahrhaft tief greifende Revolution wird sein, dass man den Körper nunmehr von innen her angreift. Die Gespenster, die immer von außen kamen und als solche erkennbar blieben, in Zukunft kommen sie aus dem Zellkern selbst, endogene Kräfte, die im Innern des Menschen wirken und ihn von dort her umgestalten.

Ist der Kern aber erst einmal gespalten, versiegen die Differenzen, ein tiefer Verdacht fällt auf das Subjekt. Der Mensch aus der Gen-Werkstatt tritt in ein Zwielicht. Seine Erbsubstanz ist nicht mehr nur Produkt von Vater und Mutter und dem Chor zahlreicher Ahnen, sondern Resultat einer technischen Intervention.

Jeder Einbruch ins Erbgut wird seine Selbstentfremdung steigern. Der Wechsel von aller bisherigen externen zu einer zukünftigen internen Körperpolitik markiert eine Wende in der Menschheitsgeschichte.

Zur Erinnerung: 50 Jahre lang war das Geschäft der Atomwaffen-Lobby die Umwandlung von Paranoia in Industriekapital. Tausende Arbeitsplätze entstanden so aus dem Nichts. In Zukunft besorgt diese Disziplinierungsarbeit die Genindustrie, getreu je

nem Angst-Energieerhaltungssatz, von dessen Gesetzmäßigkeit zuallererst die Privatwirtschaft profitiert, wobei die Angst sich wie immer als Verantwortung für den Fortbestand der Spezies tarnt. Der Einzelne wird mit der Rhetorik der Gesundheitsfürsorge umworben.

War es die jüngste Lektion der Menschheit, nach dem Zeitalter der politischen Totalitarismen, vor sich selbst auf der Hut zu sein, so lehrt die nächste sie, wie leicht es ist, über sich selbst hinauszugelangen. Eine einzige Drehung, nicht der Rüstungsspirale, sondern der Doppelhelix genügt. Erst damit kommt wirklich das Reich der Freiheit in Sicht.

Was gegenwärtig geschieht, ist vielleicht nichts als die Anpreisung uneinlösbarer Paradiese, doch schon diese ist markerschütternd. Nach den Wonnen der Atomphysik und der Bescherung mit Heimcomputern für jeden bricht nun das fröhliche Zeitalter des Menschenmachens herein. So viel Neues im schlechten Tausch gegen den Trost des Gewohnten, so viel Aufbruch ohne Heimkehr, so viele Angriffe aufs Zentrum. Man muss schon sehr alt, sehr europäisch, das heißt, aus urwüchsigem Holz geschnitzt sein, um im Lauf eines einzigen, kurzen Menschenlebens so viele Erschütterungen zu überstehen.

Lang war der Weg der Naturwissenschaften. Voller Skrupel begannen sie mit Bacons Novum organum scientiarum, dem Manifest des neugierig experimentierenden Geistes; als Positivismus, der alle sonstigen Denkformen verächtlich beiseite fegte, trumpften sie später auf; schließlich waren sie zu jener neutralisierenden Macht geworden, als die jedes Schulkind sie heute pauken muss, ein gewöhnliches Betriebssystem zur Aufrechterhaltung prothetischen Lebens. Naturwissenschaft, darin lag ihr verborgener Sinn, hat uns fit gemacht für den Überlebenskampf der Generationen. Zuerst half sie uns aus der Umklammerung durch die Natur, dann aus den Zwängen der eigenen Gattung. Wen kümmert noch, dass sie von Anfang Abhängigkeit schuf?

Und nun die gute Nachricht, nach so viel unkonstruktivem Sarkasmus. Du, der du heute faktensatt, von Informationen zerrissen, unter enormem Anpassungsdruck durch Landschaften und Städte wanderst, die dir noch immer lieb und vertraut sind, du wirst das goldene Zeitalter der Gen-Zauberei nicht mehr erleben. Natürliches Auslaufmodell, das du bist, vom technologisch überrundeten Evolutionsprozess ad acta gelegt, bleibt dir wenig, woran du dich halten kannst. Nur dein Anachronismus, die Würde des Überholtwordenseins.

Beneide sie nicht, deine effizienteren Nachfahren, jene genoptimierten Superenkel, denen aus allen Poren Vollkommenheit strahlt. Ihr Schicksal wird die Langweile sein, die Trübsal am Rande der posthumanen Wüsten. Länger als je zuvor ein Mensch müssen sie unter ihresgleichen verweilen, umgeben von lauter zählebigen, hundertprozentig gesunden Phäaken, die alle dieselbe Einheitszeit teilen.

Dir als Letztem wird es vergönnt sein, am Ende deiner gezählten Tage, nach einem verworrenen Leben, das frei war von biologischer Vorsehung, erschöpft die Augen zu schließen - nach sterblicher Vorfahren Art.

#2 John Schloendorn

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Posted 10 April 2005 - 03:54 AM

Wir? Die letzten die sterben? Hehe, nur ueber meine Leiche! Oder wie alt is der Typ?




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