Posted 20 July 2005 - 02:43 PM
@ John:
Diesen Artikel finde ich in seiner ganzen monokausalen Grundtendenz auch nicht besonders erfrischend oder auf der Höhe der Diskussion, denn es kann doch keinen Zweifel mehr daran geben, daß Altern ein multifaktorieller Prozess ist, der eine komplexe Lösung verlangt!? Diese Vielfalt und Komplexität wenigstens prinzipiell und annähernd theoretisch auf den Punkt gebracht zu haben, ist jedenfalls meines Erachtens gerade die Hauptleistung von de Greys SENS-Modell, und ich finde, neuere Meldungen insbesondere des sensationellen Typs müssten sich immer an den dort formulierten Einsichten messen lassen.
Aber hast du schon einmal an so einer alten Schrottkarre herumgeschraubt und versucht, dort alte Teile gegen neue zu ersetzen? Also ich schon, und auch wenn das schon viele Jahre her ist, kann ich mich an die damit verbundenen Probleme und frustrierenden Gefühle noch lebhaft erinnern, weil vor sich hinrostende Maschinenteile zu allen möglichen unberechen- und unkontrollierbaren Effekten führen, auf die man nur noch mit zunehmendem Aufwand und Improvisation reagieren kann. Allgemein gesprochen: Es kommt dabei zu einer Zunahme von Entropie, die sich immer schwerer beherrschen läßt, mit exponentiell ansteigender Tendenz. Der Vergleich mit einem PKW wird ja auch in der populären gerontologischen Literatur zur Veranschaulichung der evolutionären Logik des Alterungsprozesses im Kontext verschleißtheoretischer Konzepte angeführt und findet sich, glaube ich, gerade auch in Kirkwoods 'Zeit unseres Lebens', wenn ich mich nicht irre. Altern ist danach nicht genetisch programmiert o.ä., sondern spiegelt nur die mangelnde evolutionäre Anpassung an die nachreproduktive Phase eines Organismus. Mit dem PKW-Vergleich soll vor allem der 'ökonomische' Aspekt evolutionärer Anpassungsmechanismen verdeutlicht werden, die zu einer Bevorzugung der Fortpflanzung gegenüber der individuellen Langlebigkeit führen. Wie bei einem verrostenden PKW sei es aus der Sicht der Evolution ökonomisch effektiver, in Nachwuchs - bzw. in eine Neuanschaffung - zu investieren, wobei es auf der Ebene des PKW's tatsächlich um bare Münze geht, denn ab einem gewissen Punkt steckst du einfach keinen müden Euro mehr in so eine alte Karre, weil es ein Fass ohne Boden wäre.
Ein Unsterblichkeitskonzept, das auf permanente Reparatur setzt, wäre daher schon aus praktischen wie ökonomischen Gründen kein wirklicher Durchbruch sondern könnte bestenfalls kurzfristige Brückenfunktion entfalten. Von den psychologischen Faktoren ganz abgesehen, denn beim Auto und meinetwegen bei Fliegen, Würmern und Mäusen können wir vom 'Reparieren' reden, beim Menschen kommen andere Ebenen der Lebensqualität hinzu, die schon eine solche Sprache verbieten, wenn man größere Begeisterung für die Langlebigkeit wecken will. Die Menschen wollen ja nicht einmal das Rauchen für eine bessere Gesundheit aufgeben, wie wollte man sie da mit komplizierten, teuren, gefährlichen oder gar schmerzhaften etc. Folgen von Behandlungsmethoden konfrontieren, die auch noch in (un-)regelmäßigen Abständen wiederholt werden müßten!??
Die künstliche Stimulation körpereigener Regenerationskräfte scheint mir dagegen auch viel aussichtsreicher zu sein aber prinzipiell etwas anderes darzustellen. Man spricht zwar hier auch metaphorisch von 'Reparaturmechanismen' des Körpers oder der Zellen, aber für mein Gefühl handelt es sich da um etwas qualitativ anderes, als wenn wir mit verbesserten Transplantionstechniken oder neuen Möglichkeiten des tissue engineering von außen unvollkommen oder in ein nur mäßig verstandenes organisches System eingreifen. Vielleicht ist das auch nur eine Definitionsfrage oder ein Sprachproblem. Statt permanenter Reparatur kann meines Erachtens jedenfalls nur eine solche Strategie erfolgreich sein, die auf grundlegende Prävention der Altersphänomene in einem Frühstadium setzt. Auch hier noch einmal der Auto-Vergleich (den man aber auch nicht überstrapazieren sollte): jede Oldtimer-Parade demonstriert augenfällig, wie man durch ganz bestimmte und einfache Vorbeugemaßnahmen die Lebensdauer eines PKW's um ein Vielfaches über den Durchschnitt steigern kann...
Normalerweise finde ich deinen bzw. Aubrey de Greys Akzent auf die praktische Machbarkeit an Stelle der Grundlagenforschung konstruktiv und erfrischend, wenn ihr aber ins Gegenextrem fallt und es schematisch bis polemisch gegen jedweden Versuch wendet, die Zusammenhänge des Alterns tiefer zu erforschen, geht der ganze Argumentationsgewinn auch gleich wieder verloren. Tiefer betrachtet ist es sowieso ein Scheingegensatz, denn wenn du wissen willst, WIE man bestimmte biologische Prozesse gezielt und erfolgreich beeinflussen kann, mußt du natürlich vorab wissen, wie und WARUM sie grundlegend funktionieren. Umgekehrt kann man über den Versuch der gezielten praktischen Beeinflussung wiederum eine Menge über diese Grundlagen lernen etc. Mir scheint hier zunächst einmal der alte Gegensatz zwischen theoretisch und experimentell arbeitenden Forschern vorzuliegen, wobei ich es ziemlich kurios finde, daß ausgerechnet ein theoretischer Biologe wie de Grey eine solche Dauerpolemik bzw. ein Plädoyer für die experimentelle Arbeit und Überprüfung vorträgt. Auf einer tieferen Ebene ist es aber wohl gar kein wissenschaftliches oder methodologisches Problem sondern ein grundlegender Streit über den Sinn und die Richtung der biologischen Alternsforschung überhaupt. De Greys Betonung des 'wie' geht von der fundamentalen Wertsetzung aus, daß man den Alternsprozess überwinden muß, der Mainstream der biomedizinischen ist gegenüber diesem Ziel aber anscheinend indifferent bis ablehnend eingestellt. Das sollte man dann auch so benennen, und keinen irreführenden Nenbenkriegsschauplatz eröffnen.
Dankenswerter Weise hast du in deinen obigen Beitraegen hier ja bestimmte Äußerungen über die praktische Machbarkeit, die du in letzter Zeit in verschiedenen Strängen wiederholt hast, einschneidend relativiert. Man konnte ja sonst schon den Eindruck gewinnen, die vielen Forschungslabors und Entwicklungsabteilungen z.B. in den großen Pharmaunternehmen müßten nur noch auf all das 'ausreichende Grundlagenwissen' zugreifen, um mal eben schnell die Pille gegen das Altern übernächstes Jahr auf den Markt zu werfen. Man braucht sich da nichts vorzumachen, aber Wissenschaftler, die bestehendes Grundlagenwissen sofort praktisch umsetzen würden, stehen in ausreichender Zahl Gewehr bei Fuß, schon aus ökonomischen Gründen. Es hapert aber weiterhin am grundlegenden Verständnis des Alterungsprozesses, das wahrscheinlich gerade für ein umfassendes und zugleich einfaches und elegantes Präventionskonzept entscheidend wäre, auf dessen meines Erachtens vorrangige Stellung ich oben hingewiesen hatte. Die multifaktorielle Natur des Alterungsprozesses spricht aber - leider - erst einmal gegen die baldige Entwicklung eines solchen einfachen Mittels gegen das Altern.
Der Unterschied zwischen 30 und 200 Jahren ist übrigens der Unterschied zwischen Leben und Tod sämtlicher heutiger lebender Menschen, aber wahrscheinlich muß man gerade diesen existentiellen Unterschied herausarbeiten, wenn man die notwendige Ernsthaftigkeit für die zu lösenden Aufgaben erzeugen will. Deine 'optimistischste' Annahme von 30 Jahren schließt außerdem etwa die Hälfte aller lebenden Erwachsenen und drei Viertel bis vier Fünftel aller lebenden Entscheidungsträger der politischen, wirtschaftlichen, wissenchaftlichen und kulturellen Eliten aus, die in der Regel ein höheres Lebensalter jenseits der 50 besitzen. Solange der Immortalismus sich auf die biomedizinische Alternsforschung konzentriert, wird er daher weiterhin keinerlei Chance besitzen, wenigstens in Teilbereichen der Gesellschaft gesteigerte Zustimmung zu finden, und natürlich muß man erst einmal die kurzfristigeren und einfacheren Probleme, Bedrohungen und Lebensbeeinträchtigungen überwinden, bevor man sich den langfristigeren und komplizierteren zuwenden kann, siehe Hunger, Tsunamifolgen, Unfall-, Drogen- und Gewaltprävention, Fehlernährung, Irak-Krieg usw. usf.
@ 941:
Die biomedizinische Alternsforschung hat nach jahrzehntelanger Forschung noch keinen einzigsten Tag an Lebensgewinn bei der maximalen Lebenserwartung des Menschen zustande gebracht, weshalb die oft angeführten Vergleiche mit dem sonstigen allgemeinen wissenschaftlichen und technischen Fortschritt völlig irreführend sind. Sie besitzt weiterhin noch nicht einmal ein einheitliches Paradigma des Alterns sondern nur eine Unzahl heterogener Theorien und Erklärungsmodelle, wie John das ganz gut angedeutet hat. Darüberhinaus strebt die Mehrheit der Alternsforschung auch gar nicht das bewußte Ziel an, das Altern zu überwinden, was allgemein wenig bekannt ist und mir selbst im vollen Ausmaß erst in den letzen ein bis zwei Jahren so richtig klar geworden ist. Von der Tatsache, daß Altern bzw. altersbedingte Krankheiten nur EINE Todesursache in einem ganzen Spektrum ANDERER darstellt, ganz abgesehen ist der Optimismus, der teilweise hier im englischsprachigen Hauptforum grassiert, daher völlig unangemessen. Man kann optimistisch sein im Sinne einer Grundhaltung den Dingen des Lebens gegenüber, aber wer sich dadurch den Blick auf die Realitäten verstellen läßt, ist nicht optimistisch sondern illussionär, was im Grunde genommen der letztlich vergeblich bleibende Versuch darstellt, seine Ängste, Zweifel und Schwächen aggressiv abzuwehren, also das genaue Gegenteil.
Die Menschheit muß erst einmal kollektiv älter werden, d.h. mindestens in einem größeren privilegierteren Teil ein höheres und ohne Biotechnologie, Genforschung etc. längst machbares Durchschnittsalter erreichen, bevor sie sich tieferen Altersbarrieren zuwenden wird. In den wohlhabenden Ländern beträgt das statistische Durchschnittsalter gerade mal 75 bis 80 Jahre, also nur etwa zwei Drittel des heute schon wissenschaftlich-offiziell zugebilligten biologischen Lebenspotentials. Das heißt, Millionen von Menschen sterben sogar hier schon mit Anfang oder Mitte 60, vom übrigen 'Rest' der Welt ganz abgesehen! Wieso sollte die Menschheit also größere Schritte unternehmen, um tiefere Altersgrenzen zu überwinden, wenn nur die wenigsten Menschen so alt werden, daß sie in den potentiellen Genuß solcher aufwendiger neuer Errungenschaften kämen!??
Thema Religion: Religion ist der traditionelle Ort und Ursprung des Unsterblichkeitsgedankens, eine übersteigerte und generalisierte Form, sich für das Leben oder 'die Schöpfung' auszusprechen. Noch in jeder Dorfkirche wird sonntags für 'das ewige Leben' gebetet, während man irgendeine Form von immortalistischem Engagement bei säkularen Rationalisten mit dem Rasterelektronenmikroskop suchen muß. Stattdessen sind gerade agressive Atheisten oft die stärksten Todesakzeptanzprediger, was bei ihnen allein schon deshalb besonderes Gewicht hat, weil für sie - im Gegensatz zu den traditionell Religiösen - mit dem Tod alles aus ist. Unabhängig davon ist Religion die Form der Menschheit, ein inneres und soziales Verhältnis zu den letzen Dingen zu finden: Warum ist nicht nichts, warum sind die Naturgesetze, wie sie sind, was war vor dem Urknall oder eben was ist der Tod? etc. sind alles Fragen, die in diesen Bereich gehören. Es ist durchaus eine Religion denkbar, die das wissenschaftliche Denken integriert hat, während es nicht denkbar ist, daß Wissenschaft selbst je die Antwort auf alle Rätsel des Lebens und der Existenz finden wird. Daher kann Kritik der Religion immer nur Kritik an konkreten Formen des religiösen Ausdrucks darstellen, die sich historisch wandeln und immer wandeln werden. Kritisiert man dagegen Religion an sich, schafft man ein geistiges und soziales Vakuum für ein menschliches Grundbedürfnis und wird dafür u.a. mit George W. Bush nicht unter einer Amtszeit von 8 Jahren bestraft.