Hallo Deickhoff,
natürlich könnte man zu deinen Fragen ganze 'Romane' schreiben, aber kurz und knapp gefasst sehe 'ich persönlich' das so:
Da der Mensch an vielfältigen anderen Todesursachen sterben kann, woran auch keine Stammzellenforschung, Gentechnologie, 'die Alterspille' usw. je etwas ändern könnte - ein Blick in die Nachrichten, die Geschichtsbücher oder die Todesstatistiken, und du kannst dir das konkreter machen - bedeutet 'physische Unsterblichkeit' (oder 'infinite lifespans') für mich zunächst etwas viel umfassenderes als die bloße Überwindung des Alterungsprozesses und hat mehr mit einer grundsätzlichen Lebensphilosophie etwa im Sinne des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Anzahl von Menschen zu tun. Im engeren Sinne geht es um das Verhältnis von Krankheit und Altern, wobei die Wissenschaft sich immer noch nicht völlig einig ist, inwieweit Altern ein eigenständiger und unabhängiger Prozeß ist, der allerdings mit fortschreitender Dauer die unterschiedlichsten Krankheiten begünstigt oder ob es selbst nur die ständige Akkumulation krankhafter Stoffwechselprozesse im großen wie im kleinen ausdrückt. Klar ist auf jeden Fall, daß die Menschen heute nicht am Altern sterben sondern vor allem - in unseren Breiten - an vielfältigsten Krankheiten, insbesondere Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen, die im Prinzip keine 'Alterskrankheiten' sind, sondern in jedem Alter auftreten können. Daher bliebe die - hypothetische - Überwindung des Alterungsprozesses in Hinblick auf körperliche Unsterblichkeit auch so lange völlig bedeutungslos, so lange man nicht die wichtigsten und vom Alterungsprozeß unabhängigen Krankheiten besiegt hätte. Dies ist an sich schon eine Sysiphus-Arbeit, aber die Medizinstatistiker rechnen einem sogar noch vor, daß die 'wichtigsten' Krankheiten keine festehende und einmalig auszurottende Gruppe darstellt, sondern daß unzählige andere, noch nicht erforschte und bis jetzt noch seltenere Krankheiten bereitstünden auf die vorderen Plätze vorzurücken, wenn man die heutigen Übeltäter abschaffen könnte.
Die starke Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung im 20. Jahrhundert hat bei allen medizinischen Verbesserungen insbesondere auf dem Gebiet der Bekämpfung der Infektionskrankheiten dabei sowieso nur zum kleineren Teil mit dem medizinischen Fortschritt zu tun und bis jetzt überhaupt nichts mit den Erkenntnissen der Alternsforschung. Sie resultiert stattdessen vor allem aus der allgemeinen Steigerung der Lebensqualität wie besserer Ernährung, kürzerer Arbeitszeit, weniger körperlicher Arbeit, höherer Löhne, Urlaub, sozialer Absicherungen, besserer Bildung, mehr Freizeit usw., also mehr mit allgemeinen Fortschritten der Wissenschaft und Technik, der Politik und Kultur. Die 'durchschnittliche' Lebenserwartung ist als statistische Größe dabei für den einzelnen relativ bedeutungslos, denn wie alt jemand schon unter den heutigen Möglichkeiten WIRKLICH werden kann differiert je nach Lebensstil und verschiedenen sozialen Voraussetzungen enorm. Die individuelle Lebenserwartung ist die Summe all' deiner Lebensäußerungen deiner gesamten Lebenszeit, weshalb es auch keineswegs besonders früh ist, wenn du dich 'schon' mit 26 für dieses Thema interessierst, denn du legst immer heute schon den Grundstock für alle späteren Möglichkeiten.
Dabei finde ich alle psychologischen Fragen und Aspekte besonders interessant, da die psychosomatische Medizin seit Jahrzehnten den psycho-sozialen Anteil von Krankheit nachweist und die neueren Ansätze der Anti Aging-Medizin dies sogar noch auf den Alterungsprozeß ausweiten. Selbst die konventionellen und von der herrschenden Medizin und Naturwissenschaft akzeptierten Theorieansätze stellen hier immerhin Lebensgewinne in der Größenordnung von vielen Jahren bzw. einigen Jahrzehnten in Aussicht, wobei ich persönlich mit darüberhinausgehenden Richtungen alternativer Ganzheitsmedizin bis hin zu mehr oder weniger esoterischen Traditionen und Techniken sympathisiere, die noch viel weitergehende Versprechungen machen. Diese alternativen Richtungen und Traditionen werden allerdings größtenteils von der biomedizinischen Schulwissenschaft und wahrscheinlich auch den meisten hier auf imminst.org verkehrenden Teilnehmern abgelehnt oder sogar ins Lächerliche gezogen, in dem auf ihre vermeintliche Unwissenschaftlichkeit und/oder Irrationalität hingewiesen wird, was ich in vielen Einzelfällen weder kritisieren kann noch will. Da ich mich aber seit Jahrzehnten und unabhängig vom Unsterblichkeitsthema mit den Schattenseiten wiederum der naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin beschäftige - ich bin jetzt 44 - fände ich es gerade bei einem so außergewöhnlichen Ziel wie der körperlichen Unsterblichkeit töricht, hier vorschnelle Pauschalierungen sowohl in der ein oder anderen Richtung vorzunehmen. Die verschiedenen alternativen Richtungen besitzen tatsächlich einen hohen Anteil an widerlegbaren oder unüberprüfbaren Behauptungen bzw. irrationalen Elementen, dafür sind sie in der Regel psychologisch angemessener, stärken vor allem den Aspekt der umfassenden Krankheitsprävention und auch die Motivation, sich mit dem Unsterblichkeitsthema zu beschäftigen. Sie geben insbesondere auch allen Nicht-Medizinern/Biologen geistiges wie praktisches Rüstzeug in die Hand, selbst etwas zu tun, anstatt auf den bloßen technisch-naturwissenschaftlichen Fortschritt zu warten, wie es letztlich sowieso eine dauernde individuelle Verantwortung für den eigenen Körper gibt, die einem niemand abnehmen kann. Was nützt dir schließlich 'die Unsterblichkeitspille', wenn du bei 5 Grad Minus mit nacktem Oberkörper durch den Schnee läufst und dir den Tod holst etc.pp.!!?
Bei der Frage, ob es je eine solche Unsterblichkeitspille geben kann, zumindest wenn man sich darunter ein monokausal wirksames Medikament vorstellt oder ähnliches, bin ich aus den geschilderten Gründen der Vielfältigkeit von Krankheits- und Todesursachen äußerst skeptisch. (Daher finde ich schon allein aus diesem Grund deine Befürchtung, 'der Staat' würde irgendwelche spektakulären Ergebnisse auf diesem Gebiet zurückhalten, irrelevant, aber davon abgesehen: er finanziert ja alle möglichen Forschungsinstitutionen, insbesondere die Universitäten, und die Professoren selbst genießen Forschungs- und Publikationsfreiheit, sonst wird das eh nix.) Analoges gilt für gentechnologische Eingriffe oder andere technologische Verfahren, die nur dann sehr effektiv sein könnten - die ganzen ungelösten praktischen Probleme sowieso beiseite gelassen - wenn es einen einfachen genetischen Alterungsmechanismus im Sinne eines genetisch programmierten Alterns gäbe. Die Gene spielen zwar bei allen möglichen körperlichen Prozessen und auch beim Altern eine wichtige Rolle, aber leider spricht wenig dafür, daß es solch einen einfachen bzw. zentralen genetischen Alterungsmechanismus gibt. Wenn dich die tieferen evolutionstheoretischen Begründungen für diese Einschätzung interessieren - und wenn dein Englisch ausreichend ist - dann empfehle ich dir hier auf imminst.org, im Archiv der Member Articles, den Text von Shane Greenup 'Why do we age?' der die zugrundeliegenden natürlichen Gesetzmäßigkeiten ganz gut und knapp zusammenfasst. Auf der biomedizinisch-technischen Schiene scheinen mir im Moment und bis auf weiteres daher nur partielle Lebensgewinne etwa durch die Stammzellenforschung, immer bessere Behandlungs- und Operationstechniken etc. möglich zu sein, aber keine prinzipielle Überwindung des Alterungsprozesses. Allerdings steigert jede Erhöhung der Lebenserwartung um einige Jahre und Jahrzehnte durch welche Methoden auch immer die Chance, auch in den Genuß späterer Fortschritte zu kommen, und diese Form der 'Etappenunsterblichkeit' scheint mir noch am aussichtsreichsten (wobei ich diesen Begriff gerade eben erfunden habe und noch nicht weiß, ob er mir wirklich gefällt...
Ich glaube, da gibt's auch schon ein besseres Wort, das mir gerade nicht präsent ist!??)
Abschließend finde ich es am interessantesten, wie die ganzen grundlegenden Vorstellungen, nach denen Menschen ihr Leben so einrichten, mit der Einschätzung über seine Länge verknüpft sind. Wenn man mal mit anderen Leuten diskutiert, die entweder traditionellen religiösen Bekenntnissen anhängen oder aus anderen Gründen gegen die Idee extremer Lebensverlängerung eingestellt sind, merkt man immer wieder, wie viele mit dem Tod regelrecht 'verheiratet' sind. Je nach Stimmung und Anlaß finde ich das dann witzig, traurig oder deprimierend oder auch einfach nur 'interessant', aber solange das so ist, wird auch die Alternsforschung kaum große Fortschritte machen können. Schließlich wird sie von einer weitgehend todesorientierten Gesellschaft bezahlt bzw. auch ideell anerkannt oder geringgeschätzt, und solchen kollektiven Einflüssen kann sich auch der individuelle Wissenschaftler in seiner Produktivität und Kreativität nur schwer entziehen, er stammt ja selbst aus ihr und lebt in ihr. Letztlich läuft es immer auf die Frage der Lebensqualität hinaus, und wer die allgemeine Chance, das Leben wesentlich zu verlängern, generell erhöhen will, muß an der immer weiteren Verbesserung sämtlicher Lebensumstände arbeiten, denn nur Menschen, die gerne leben, wollen diesen Zustand 'verlängern' (d.h. beibehalten bzw. immer weiter steigern usw.)...
Jetzt ist's doch ein kleiner Roman geworden, sorry, aber deine Fragen zielten ins Wesentliche und da fällt eine kurze Antwort wirklich schwer.
Gruß
Lothar