Posted 20 July 2005 - 02:57 PM
Hallo Karl,
auch von mir noch ein Willkommensgruß und schön, daß du auch den Weg zu Imminst gefunden hast. Hat mich aber auch schon gewundert, denn hier dürftest du wesentlich mehr Zustimmung oder zumindest qualifizierte Resonanz ernten, als auf 1000fragen.de. Natürlich ist es immer verdienstvoll, 'missionarisch' tätig zu sein... ;-) ...aber für mich macht es nur sehr begrenzt Sinn, sich in einem solch oberflächlichen und vor allem auch unsystematischen Forum wie 1000fragen.de mit längeren und engagierteren Beiträgen zu beteiligen. Dafür ist der schriftliche Ausdruck einfach eine zu aufwendige Mitteilungsform, als daß es einem egal sein könnte, ob die eigenen Texte in einem Wust von belanglosem, einfältigem oder ideologisch voreingenommenem auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Außerdem denke ich sowieso, daß Ethik/Moral als Kernfocus des 1000Fragen-Projekts und egal, welche inhaltlichen Positionen man im einzelnen dazu einnimmt, immer nur eine abgeleitete Ebene darstellt, weil sich ethisch-moralische Grundüberzeugungen nur auf einer tieferen weltanschaulich-philosophischen oder religiösen Ebene begründen lassen. Die ist aber selbst jenseits von ethisch-moralischer Wertsetzung und hat mehr damit zu tun, in welcher Art von höchster Realität oder 'wirklicher Wirklichkeit' man zu leben glaubt...
Zum Thema Überbevölkerung ließe sich noch eine Menge sagen, wobei man wohl zwei Dinge grundlegend auseinanderhalten muß. Zum einen handelt es sich ganz unabhängig von der Frage der Lebensverlängerung und körperlichen Unsterblichkeit um ein fundamentales Problem der Menschheit, das eine ganz eigenständige Bedrohung der weiteren menschlichen Entwicklung und gewissermassen eine weitere Todesursache auf kollektiver Ebene darstellt, wenn man die zwangsläufigen politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Folgen in Rechnung stellt. Zum anderen wird sie immer wieder als zentrale Folge einer möglichen fulminanten Lebensverlängerung vorgetragen, um das Streben nach letzterem vehement zu kritisieren. Wie ich einleitend in dem Strang, aus dieser Thread hier ausgeschnitten wurde, aber schon schrieb, halte ich nach langjähriger Erfahrung gerade letzteres als Einwand gegen die körperliche Unsterblichkeit in der Regel für vorgeschoben, von Leuten, die auf ziemlich geringer Wissensbasis und aus ganz anderen Gründen dagegen sind und glauben, hier ein billiges Argument finden zu können. Die Auseinandersetzung damit lohnt daher nicht wirklich oder nimmt meist einen unerquicklich unsachlichen und polemischen Verlauf. Die wichtigsten Gegenargumente hast du (aber auch die anderen weiter oben) außerdem ja schon benannt bzw. wiederholst sie (auf 1000fragen.de) kontinuierlich (aber allein, DASS du sie wiederholen mußt, zeigt schon an, daß es dort keinen wirklichen Erkenntnisfortschritt gibt): Die Geburtenrate ist in den entwickelten Ländern mit den hohen Lebenserwartungen längst auf einen Wert gefallen, der zu einem Sinken der Bevölkerung geführt hat, das Problem besteht eben erst mal unabhängig von der Ausdehnung der Lebensalter, wird gerade von den höchst sterblichen Menschen produziert, hat ganz bestimmte mathematische Gesetzmäßigkeiten, die seine Dynamik regieren oder könnte langfristig auch noch durch Expansion in den Weltraum gelöst werden usw.
(Für das bestehende und sich zuspitzende Problem halte ich die Weltraumoption allerdings für völlig unrealistisch, weil wir den aktuellen globalen Trend innerhalb der nächsten paar Jahrzehnte stoppen und umkehren müssten, während unsere Raumfahrttechnologien und materiellen Ressourcen für diesen Zeitraum noch zu unterentwickelt sind, vom politischen Willen ganz abgesehen. Siehe das Space-Shuttle Desaster oder die mangelnde Begeisterung für ein bemanntes Mars-Projekt etc. Denke allerdings sowieso, daß es einfacher und auch billiger sein müsste, erstmal künstliche Habitate in entlegenen Regionen hier auf der Erde anzulegen o.ä., bevor man den Schritt in den Weltraum geht, aber auch das scheint mir völlige Zukunftsmusik zu sein, angesichts der Dringlichkeit des Problems und viel einfacherer Alternativen.)
Die Gründe für den bisherigen Bevölkerungsanstieg sind jedenfalls vielfältig und komplex und werden von Experten vor allem in folgenden Faktoren gesehen: verbesserte Hygiene, bessere medizinische Versorgung und resultierende sinkende Säuglingssterblichkeit, mangelnde Aufklärung und Bildung von Frauen in den Entwicklungsländern, geringe Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln, patriarchale Strukturen, die die Frauen in Abhängigkeit halten, konservative Sexualmoral und traditionelle Religion, die diese Sexualmoral stützt und schließlich unfähige und korrupte Regierungen und Bürokratien in unterentwickelten Ländern ohne Altersversorgung, in denen die Zahl des Nachwuchses den sozialen Status, den materiellen Wohlstand und die eigene Altersabsicherung garantiert. Diese Faktoren sind zwar tatsächlich vielfältig und komplex ineinander greifend, aber verstehbar und beherrschbar, wie eine ganze Reihe positiver Beispiele und allen voran China zeigt.
Am interessantesten finde ich deinen Hinweis auf diese mathematischen Proportionen und Dynamiken, die eben auch die aktuelle Bevölkerungsentwicklung bestimmen, wobei ich schon länger darüber nachdenke, wie man das anschaulich übersetzen könnte. Bis jetzt ist mir leider aber noch kein passender Vergleich eingefallen!?
Deine wiederholten Rechnungen, daß sogar jedes potentiell unsterbliche Paar ein bis zwei Kinder bekommen könnte, ohne daß es mittel- und langfristig zu dramatischen Steigerungen der Bevölkerungszahlen käme, verstehe ich allerdings nicht. Angenommen sämtliche 6 Milliarden Menschen (6,5 sind es nach einer aktuellen Studie schon) wären mit einem Schlag 'unsterblich', d.h. sie würden von heute auf morgen nicht mehr altern (was in dieser abrupten Form ohne jegliche längere Übergangsfrist ganz sicher nicht passieren wird) und bekämen je ein Kind (=3 Milliarden Paare bekommen je zwei Kinder), dann hätten wir 12 Milliarden Menschen und nach 30 Jahren bekämen die Kinder wiederum 2 Kinder, dann wären es schon 18 usw. - minus dem Prozentsatz an Menschen, der an nicht altersbedingten Todesursachen stirbt. Also mir scheint schon bei ziemlich oberflächlicher Rechnung, daß auch ein gemäßigtes Fortpflanzungsverhalten unter der zentralen Voraussetzung drastisch reduzierter Sterblichkeit in relativ kurzen Zeiträumen von weniger als 100 Jahren zu einem massiven Anstieg der Bevölkerung führen würde, die wir auch mit einem weiteren gemäßigten Wachstum unserer technisch-ökonomischen Möglichkeiten nicht bewältigen könnten!??
Wie gesagt, eine solche abrupte Reduzierung der allgemeinen Sterblichkeit (und ohne gleichzeitige Veränderung des Fortpflanzungsverhaltens!) halte ich aus verschiedensten Gründen für völlig unwahrscheinlich - wenn auch nicht für unmöglich - aber da dies der Kernaspekt des Arguments der Gegner in dieser Hinsicht darstellt, wollte ich zumindest die mathematischen-abstrakten Zusammenhänge doch noch einmal genauer nachfragen.
Generell denke ich sowieso, daß der Einwand Überbevölkerung als Argument gegen die Langlebigkeit die grundsätzliche Struktur vieler analoger Kritikpunkte aufweist, nach der wir besser heute sterben sollen, anstatt an Folge x, y oder z verschiedener Überlebensstrategien morgen oder übermorgen zu sterben. Das ist allein deshalb schon fundamental widersprüchlich, weil das Argument des Überlebens ja selbst zum zentralen Beurteilungskriterium gemacht wird, allerdings in einer minderen und schwächeren Form weil mit einer geringeren Lebenserwartung versehen! Dieser widersprüchlich-irrationale Umgang mit der ganzen Problematik läßt sich meiner Meinung nach nur unter psychologisch-existentiellen Gesichtspunkten wirklich angemessen verstehen - von den im Hintergrund meist verdeckt bestehenden religiösen Grundüberzeugungen ganz abgesehen, die allerdings nur bei einem Teil der Kritiker bestehen - denn gerade das Thema Überbevölkerung stellt eine perfekte Projektionsfläche für Sexualität, intime Beziehungen und den persönlichen Kinder- bzw. Familienwunsch dar! Zwischen Fremden und im Internet läßt sich darüber aber wiederum im Grunde nicht wirklich frei und offen diskutieren, weil man dafür seine intimsten Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Erfahrungen preisgeben müßte, was ja schon im richtigen Leben nur unter besonderen Voraussetzungen möglich ist. Deine auf 1000fragen.de hier öfters vertretene Kompromisslinie der friedlichen Koexistenz zwischen Menschen mit und Menschen ohne Kinder hat mir dabei immer sehr gut gefallen. Das tiefere praktisch-politische Problem dürfte hier allerdings in der Frage bestehen, die unabhängig von der Lebensverlängerung aktuell heiß diskutiert wird, warum im bestehenden System des Umlageverfahrens Menschen mit Kindern die Renten von Menschen ohne Kinder mitfinanzieren sollten!? Natürlich ist das Prinzip Rente in der Perspektive körperlicher Unsterblichkeit prinzipiell obsolet, aber solange letzteres nur eine vage Zukunftshoffnung ist und angesichts mindestens zu erwartender vehementer Übergangs- und Anpassungsprobleme soll die Sache hier doch wenigstens einmal erwähnt sein.
Ich glaube weiterhin, daß der Wunsch nach körperlicher Langlebigkeit und der persönliche Kinderwunsch sich tendenziell psychologisch ausschließen. Nicht zwangsläufig und nicht in jedem Einzelfall aber als generelle Grundtendenz, etwa in dem Sinne: traditionell 'verjüngen' sich die Menschen in ihren Kindern und opfern dabei in gewisser Weise ihr Leben, modern wollen sie sich selbst verjüngen und verändern, was ihnen wahrscheinlich genau in dem Maße gelingt, wie sie ebenfalls alte und abgestorbene Anteile ihrer 'Identität' fortlaufend opfern, um sich permanent verwandeln und dem Neuen öffnen zu können. (Siehe z.B. auch das Kapitel in De Marchis 'Der Urschock - Unsere Psyche, die Kultur und der Tod' über den Kinderwunsch als Abwehr der Todesangst.) Der von den Gegnern hier gerne erhobene Vorwurf des Egoismus und der Ichsucht läuft daher ins Leere bzw. ist eine reine Projektion, denn es sind ja auch erstmal die sterblichen(!) Individuen, die sich mit ihrem Ich in tödlicher Konsequenz identifizieren - siehe z.B. die resultierenden permanenten Generationskonflikte, gerade zwischen Eltern und Kindern etc. - während ein Unsterblichkeitsanhänger genau diese kontinuierliche Ich-Transformation und damit auch Öffnung hin zu anderen Menschen leisten muß, wenn er sein Leben wirklich in eine größere zeitliche Ferne fortsetzen will. Auch der gerne im Zusammenhang geäußerte Vorwurf der mangelnden Innovation bei sinkenden Geburten geht daher ebenfalls ins Leere, denn es sind nur die mit ihrem baldigen Tod rechnenden Menschen, die im höheren Alter geistig stagnieren. Die Gegner haben mit ihren übertriebenem Egoismusvorwurf nur insofern 'Recht', daß der Wunsch nach körperlicher Unsterblichkeit tatsächlich auf einer gesteigerten Wertschätzung des konkreten einzelnen Individuums aufbaut, das nicht mehr bloße ichschwache Verfügungsmasse für die Machtprojekte traditioneller Moralinstanzen, Autoritäten und Ideologen sein will sondern sich im Zusammenleben mit Gleichgesinnten und untereinander Gleichberechtigten selbständig weiterentwickelt. Zwischen moralisierend erzwungenem und selbstbestimmt freiheitlichem Altruismus gibt es dabei einen fundamentalen Unterschied, ungefähr so wie zwischen 'ich will doch nur dein bestes' und 'ich liebe dich'.
Zum Thema 'Sicherheit': was das Sichermachen von technischen Systemen angeht, stimme ich dir prinzipiell zu, aber die Hintereinanderschaltung von sich selbst kontrollierenden automatischen Systemen stößt natürlich schnell an ökonomische, damit auch an psychologisch-politische Grenzen und würde auch zu einer Innovationsbremse führen, weil der Lebenszyklus von Geräten um so länger sein müßte, je teurer der materielle Aufwand zu ihrer Herstellung ist. Daran scheitert letztlich schon die traditionelle Kerntechnik, weil der Sicherheitsaufwand, der angesichts möglicher Risiken, Katastrophen und Folgeschäden betrieben werden muß, einfach zu groß ist, um in der Konkurrenz mit anderen Energiealternativen noch ökonomisch bestehen zu können. Daß die Kernindustrie das anders sieht, ist verständlich, weil sie ja auch nur betriebswirtschaftliche Logiken verfolgt, während man politisch-allgemein volkswirtschaftliche Kosten in Rechnung stellen muß, die um ein vielfaches höher sind. Ansonsten sprichst du hier nur die Todesursache 'Unfall' an, aber die ist natürlich generell nur ein kleineres Segment im Spektrum aller Todesursachen, in dem nicht-altersbedingte und z.B. verhaltens- und einstellungsbedingte Krankheiten oder auch menschliche Gewalt einen großen Teil ausmachen, die vom technischen Fortschritt erstmal ziemlich unberührt bleiben.
Die von dir angeführten bzw. zitierten Annahmen über die potentielle Lebenserwartung, wenn wir beispielsweise das Altern morgen komplett überwinden könnten, sind dabei prinzipiell nur statistisch-mathematische Konstrukte und Extrapolationen auf Basis vergangener und gegenwärtiger Fakten. Sie haben durchaus eine gewisse analytische Aussagekraft über die aktuellen Möglichkeiten, aber man sollte sie niemals als wirkliche Aussage über die zukünftige Entwicklung ansehen, weil qualitative Sprünge sowohl in der positiven wie in der negativen Richtung nun einmal nicht prognostizierbar sind. (Wer hat schon den Mauerfall vorhergesagt oder man denke an eine entsprechende Studie über die Lebenserwartung seiner Zeitgenossen, die ein Experte am Abend des 31. August 1939 fertiggestellt hätte. Die wäre schon am nächsten Tag im Mülleimer gelandet etc.pp. ) Michael Fossel hat eine ähnliche Rechnung wie de Grey schon 1996 in seinem Buch 'Das Unsterblichkeitsenzym' angeführt und kam, glaube ich, auf eine Lebenserwartung von 800 Jahren, aber wie gesagt: das ist alles nur spekulative Demographie, die auch nie die höchst individuelle Lebenssituation und die persönlichen Überlebensstrategien in den Blick nehmen kann, auf die es subjektiv gerade und ganz entscheidend ankommt!
Manchmal habe ich den Eindruck - nicht bei dir, aber bei einigen Teilnehmern hier im englischsprachigen Hauptforum - daß manche Leute die 'durchschnittliche Lebenserwartung' für individuell gesetzlich garantiert halten und wogegen man bei Nichteinhaltung vor irgendeinem Gericht klagen könnte. In Wirklichkeit handelt es sich dabei aber nur um eine höchst allgemeine statistische Aussage, in die die heterogensten und widersprüchlichsten Einflüsse eingehen und die die permanente aktive Lösung höchst konkreter und praktischer Lebensaufgaben voraussetzt, individuell wie kollektiv. Körperliche Langlebigkeit und biologische Unsterblichkeit kann sich - ganz allgemein gesprochen - immer nur organisch dort anschließen und fortsetzen, sie darf aber den gegenwärtigen Erfordernissen, Dringlichkeiten und kurzfristigeren Prioritäten nie in die Quere kommen, z.B. in dem man in einer Art eindimensionaler Thematisierung der Alternsforschung und verwandter Gebiete die aktuellen Alltagsrealitäten, Macht- und Entscheidungsstrukturen oder öffentlichen Debatten ausblendet, abwertet oder in sonstiger relevanter Weise vernachlässigt. Ansonsten läuft das ganze immortalistische Engagement auf etwas absurdes und lebensfremdes hinaus, als ob man - frei nach Chruschtschow - die durchschnittliche Lebenserwartung überholen wollte, ohne sie einzuholen, und da weiß man ja auch, wie das historisch ausgegangen ist... :-)
Beste Grüsse,
Lothar