Posted 08 September 2005 - 05:50 AM
Ich habe schon vor sechs Wochen oder so einen Text unter der Überschrift 'Immortalistische Wahlprüfsteine' skizziert, mich aber ziemlich schnell entschlossen, das nicht weiter auszuarbeiten, weil das Ergebnis zu dürftig bzw. etwas aufgesetzt ausgefallen wäre. Schliesslich war ziemlich schnell klar: keine einzige der grossen Parteien vertritt auch nur annähernd das Ziel oder Ideal der körperlichen Unsterblichkeit, so dass man im strengen Sinne keine einzigste von ihnen wählen dürfte!
Wer allerdings 'biologische Unsterblichkeit' vor allem mit der Überwindung des Alterns gleichsetzt, dies wiederum vorwiegend durch die - auch politische - Förderung und weitere Entwicklung bio- und gentechnologischer Methoden garantiert sieht und alle übrigen Themen für zweit-, dritt- und viertrangig hält, der müsste sich tatsächlich für die FDP entscheiden, weil sie die einzigste der etablierten Parteien ist, die hier eine geschlossene und zustimmende Position vertritt. (Eine single point-Entscheidung hielte ich allerdings generell für eine eher unpolitische Haltung, da sie das Wesen des Politischen, sehr vielfältige Themenfelder und Interessen im Sinne des Zusammenlebens grosser Gemeinschaften zusammenzuführen, verfehlt.) Buchstabiert man Unsterblichkeit dagegen anders und sehr viel umfassender, bliebe einem im Moment nichts anderes übrig, als alle indirekten Aspekte und Auswirkungen der Parteiprogramme bzw. der geistigen Grundüberzeugungen der verschiedenen politischen Lager im Hinblick auf die Entwicklung der allgemeinen Lebensbedingungen, der Lebensqualität, der Gesundheit und der Langlebigkeit differenziert gegeneinander abzuwägen.
Schaut man sich das zumindest probeweise einmal genauer an, stellt man interessanter- wie überraschenderweise schnell fest, dass unter immortalistisch strengen Gesichtspunkten einerseits zwar keine der herkömmlichen Parteien wählbar wäre, dass es aber in einer erweiterten und gemäßigten Perspektive in ALLEN Gruppierungen positive Ansätze gibt, die man 'eigentlich' miteinander versöhnen müsste. Dies scheint in der tieferen Logik des Unsterblichkeitsgedankens selbst begründet zu sein, der mit der existentiellen Radikalisierung der Zeitperspektive alle einseitigen Fixierungen, wie sie in der traditionellen und polarisierenden Lagerbildung - 'links-rechts', konservativ-fortschrittlich u.ä. Dichotomien - üblich sind, tendenziell transzendiert! Anders gesagt: die üblichen einseitigen Festlegungen und resultierenden politischen Identitäten bauen auf der existentiellen Kürze der Zeit und dem individuellen Zulaufen zum Tode auf. Nimmt man diese Grenze weg (wenngleich zunächst natürlich nur fiktiv oder antizipatorisch), fällt es schwer, die herkömmliche Identifikation mit einseitigen Zuspitzungen politischer Positionen, wie sie im alltäglichen demokratischen Streit völlig normal ist, weiterhin aufrecht zu erhalten.
In einer anderen Hinsicht wird einem allerdings auch bewußt, dass die Ebene der Politik generell vom Verlangen nach Macht geprägt ist, dem sich alle anderen behaupteten programmatischen Inhalte tendenziell unterordnen müssen, mindestens was die konkreten politischen Akteure und vor allem ihre Führungsfiguren angeht. Dies ist insofern problematisch, weil das übersteigerte Streben nach Macht analog zum übersteigerten Streben nach materiellem Wohlstand u.ä. eine klassische Form von existentieller Kompensation und Pseudounsterblichkeit darstellt, die auf der Verdrängung des Todes aufbaut. Was das für den Immortalismus genau heißt, kann hier noch nicht näher bestimmt werden. Es folgt daraus sicher kein Plädoyer für politische Abstinenz, aber sehr wohl eine Warnung, das politische zu überschätzen, als Selbstwert zu übertreiben oder nicht an die tieferen Ziele und immortalistischen Ideale inhaltlich rückzukoppeln. Letztlich setzt die Frage nach der Wählbarkeit von politischen Parteien unter immortalistischen Vorzeichen wohl zunächst sowieso eine genauere Klärung des grundlegenden Selbstverständnis des Immortalismus selbst voraus, wie wir sie in anderen Diskussionssträngen immer wieder einmal versuchen, seiner zentralen Themen, Schwerpunkte und Prioritäten, seiner Reichweite und Grenzen. Solange dieser umfassende und von den politischen Fragen ganz unabhängige Klärungsprozess kaum begonnen hat, geschweige denn abgeschlossen wäre oder gar zu irgendeiner Art von Konsens geführt hätte, solange ist die gestellte Ausgangsfrage wohl noch müssig.
Plädiere daher dafür, sie auf die nächste oder übernächste Wahl zu verschieben. Bis dahin wählt jeder halt das, 'was er sowieso wählt' (oder bleibt zuhause), je nach den Prägungen seiner sozialen Herkunft, seiner psychologischen und geistigen Entwicklung, der spontanen Überzeugung und Sympathie etc. - ohne dass er oder sie damit unbedingt ein immortalistisches Votum verbinden müsste. Wer in diesem konventionellen Sinne noch eine Wahlhilfe braucht, dem empfehle ich ebenfalls den von Caliban oben schon geposteten Wahl-O-Mat.
@ Caliban: Immortalismus und Transhumanismus repräsentieren in diesem Zusammenhang sicher noch einmal ganz unterschiedliche Sichtweisen, Akzente und Zuspitzungen. Für mich persönlich haben transhumanistische Themen allerdings nur Bedeutung, wenn und insoweit sie mit dem Unsterblichkeitsthema in engerer Verbindung stehen, aber das wäre wohl wieder ein ganz eigenes und neues Thema.